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Blechlastiges Abenteuer

King Kong brüllt

Von Jürg Laederach

Quelle: www.zeit.de

Charles Mingus war ein Riese am Kontrabass, sein Temperament wirkte einschüchternd und diabolisch. Maßlos klingt auch sein Jazz.

Und Beethoven erfand die Tobsucht. Ein Jaap van Zweden bewies in seiner Gesamtaufnahme der Sinfonien, dass die eherne Statik der Gebilde mit einer leichten Verschiebung ins Groteske, Unbeständige, Unbeherrschte, ja beinah ins Drogensüchtige gekippt werden kann. Beethoven entstellt, oder erst recht authentisch; wie es euch gefällt.

Dieselbe Unsicherheit bezüglich seiner wahren Gestalt herrscht bei Charles Mingus (1922–79), der zunächst sein Instrument, den Kontrabass, emanzipierte. Er wertete ihn nicht nur zum vollgültigen Soloinstrument auf, sondern entwickelte mit seiner schrankgroßen, den Kontrabass überwölbenden Gestalt ein Signalsystem, mit dem er andere dirigieren konnte. Denn offenkundig war bald, dass ihm sein Instrument nicht reichte; es musste schon etwas mehr sein. Der Riese war ein gepeinigter Mann. Eine Metapher für seinen Zustand wäre die Fabel vom Frosch, der so groß werden will wie der Ochse und bei der Blähung zerplatzt. Liest man Mingus' Autobiografie Beneath the Underdog, so sind die pausenlosen Exzesse und die durch keine Form gebundene Prosaflut nicht anders als durch eine von ihm empfundene Dauerdrohung zu erklären. Er musste ständig wachsen, um ihr gewachsen zu sein.

Da die Drohung meist unsichtbar bleibt, sieht man einen Riesen, der mittels Gesten und Kompositionen brüllt, King-Kong-Gegendrohungen ausstößt, seine Orchesterleute, von denen er meist nur wenige hat, mit einem denkbar aggressiven Vorgehen antreibt. Er steht sozusagen während des Solierens neben jedem, beurteilt dessen Leistung und schlägt ihm, wenn's nicht genügt, in die Fresse. Der Posaunist Jimmy Knepper schied aus der Formation aus, weil ihm plötzlich die Vorderzähne fehlten. Dies alles reicht noch nicht für einen Klassiker, doch Mingus gelang das Triebwunder, seine vulkanischen Maßlosigkeiten in eine Form zu bringen und gleichzeitig das Brutal-Brachiale zu bewahren. Es gelang ihm das, was man durchaus als den »eigentlichen Jazz« bezeichnen kann, eine Art sonorer Abgrund mit Zuschauerstühlen. Die meist kleineren Ensembles arrangierte er kunstvoll hoch; mit drei Bläsern schuf er den Eindruck eines Großorchesters für ' Tis Nazi USA. Man könnte Mingus' Realität als Pointe erzählen: Sobald du einen Musiker unter Lebensbedrohung spielen lässt, spielt er großartig, also bleib dabei. Mingus hätte sich, seinen Größenvorstellungen nach, zu einem planetarischen Orchester aufgeschwungen, wurde aber von einer Muskellähmung eingeholt, die ihn an den Rollstuhl fesselte.

Neueditionen wie Mingus at UCLA (1965) zeigen das eigentlich Unvergleichliche, das zum süßen Problem wird: Was, im Bereich Jazz, soll man dieser Musik entgegenhalten? Das Temperament wirkt einschüchternd diabolisch, wird ein Einzelfall bleiben. Aber es konnte in ausgewählten Momenten auf andere überspringen und mitreißende Größe erzwingen.